Jugendliche und Extremismus

Radikalisierung bedeutet, dass ein Mensch sich derart tief in eine bestimmte Ideologie verstrickt, dass ihm die Anwendung von Gewalt zu einem vermeintlich höheren Zweck gerechtfertigt scheint. Über zehn Prozent aller Schweizer Jugendlichen haben diesen Grad an Extremismus erreicht; das geht aus einer gemeinsamen Studie der ZHAW und der Haute École de Travail Social Fribourg HETS-FR hervor, die Jugendliche über ihre Einstellung zu Rechts- und Linksextremismus sowie islamistischem Extremismus befragte. Zählt man Anhänger weiterer Ideologien dazu, dürfte die Zahl noch höher sein. Von den Jugendlichen, die Gewalt befürworten, wenden aber nur die wenigsten auch selbst Gewalt an.

Seit der Studie sind drei Jahre vergangen; auf dem Hintergrund von Corona ist die Radikalisierung auf verschiedenen Gebieten vorangeschritten. Ernst-Dieter Lantermann, emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Universität Kassel und Autor des Buches „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“ sagt gegenüber dem SWR (Südwestrundfunk), Kompromissfähigkeit, Zuhören und Toleranz würden durch eine emotionalisierte Form der Auseinandersetzung abgelöst. Bis in die Mitte der Gesellschaft hinein sei eine ständige, misstrauische Wachsamkeit entstanden, die sehr schnell in Gewalt umschlagen könne.

(Bildquelle: Wikimedia, Anarkman)




Empfehlungen der MOJUGA

Radikalisierung wird stark von Inhalten in Online-Medien genährt. Im virtuellen Raum sind Fake News schwer zu erkennen, die Quelle verbreiteter Informationen ist oft nicht bekannt. Unter dem Deckmantel von Unterhaltungs- und Hilfsangeboten können Menschen hier besonders leicht manipuliert werden. Deshalb ist Radikalisierungsprävention untrennbar mit der Vermittlung von Medienkompetenz verknüpft (s. auch Ratgeber Digitale Medien). Erklären Sie Ihrem Kind, dass es den Wahrheitsgehalt einer Information zumindest ein Stück weit daran erkennen kann, dass etablierte Medien in ähnlicher Form darüber berichten. Zeigen Sie auf, dass auch Bilder und Videos auf verfälschende Weise bearbeitet sein können.
 

Vorurteile entlarven

Extremistische Aktivitäten beruhen auf Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen. Vorurteile bei sich selbst zu entlarven, ist eine Fähigkeit, die indirekt geübt werden kann – indem man immer wieder aktiv die Perspektive anderer Menschen einnimmt, ihre Beweggründe zu verstehen versucht und ihre Handlungen auf diesem Hintergrund einordnet. Schon mit kleinen Kindern kann man über die Gründe nachdenken, warum die Nachbarin wegen jeder Kleinigkeit schimpft oder der Schulkollege ständig Streit sucht. Zu solchen Perspektivenwechseln können Sie auch Ihr jugendliches Kind immer wieder animieren und damit seine Fähigkeiten zu Empathie fördern.
 

Zugehörigkeit stärken

Die Forschung zeigt, dass Radikalisierung ein Mangel an Zugehörigkeit zugrunde liegt (s. Link Psychologisches). Gerade in der Pubertät machen viele Kinder die Erfahrung, plötzlich nicht mehr akzeptiert zu werden. Ihr entwicklungsbedingtes Autonomiebestreben wird als Rebellion umgedeutet, und wenn sie ihre natürliche und notwendige Entwicklung zum Erwachsenen verteidigen, werden sie als unzugänglich und renitent wahrgenommen. Werden sie nun für ihr Verhalten bestraft oder getadelt, verstärkt sich ihr Gefühl, nicht verstanden zu werden. Es ist deshalb wichtig, dass Sie als Eltern Interesse am Leben Ihres Kindes zeigen. Sagen Sie ruhig, wenn Sie ein bestimmtes Verhalten Ihres Kindes stört, aber erkundigen Sie sich in demselben Zusammenhang nach seinen Beweggründen. Bringen Sie in Erfahrung, worüber sich Ihr Kind sorgt, was es ängstigt und unter Druck setzt.
 

Radikalisierung erkennen

Radikalisierung ist ein schleichender Prozess, der von aussen oft nur schwer zu erkennen ist, vor allem dann, wenn Jugendliche gezielt durch Dritte übers Internet radikalisiert werden. Solche Rekrutierer (etwa vom IS, von Sekten, aber auch von politisch extremistischen Gruppierungen) sind geschult und wissen, wie sie vorgehen müssen, damit Angehörige erst dann Wind von dieser Entwicklung bekommen, wenn ihr kaum mehr entgegengewirkt werden kann.

Gemäss dem Informationsportal Jugend und Medien gibt es aber Indizien, die vor allem im Zusammenspiel auf eine Radikalisierung hinweisen können:

  • Beschäftigung mit Verschwörungstheorien
  • Aggression gegenüber Andersdenkenden
  • Gewaltandrohung ("Wenn ich das nächste Mal einen Bullen sehe, schlage ich ihn tot.")
  • Verharmlosung von verbaler Gewalt ("Es ist ja nur Spass")
  • Tragen von Kleidung mit einschlägigen Emblemen, Hören von Musik radikaler Bands

Haben Sie den Eindruck, Ihr Kind entwickle eine Faszination für Verschwörungstheorien, eine radikale Haltung oder sei bereits in radikalisierten Kreisen unterwegs, halten Sie die Verbindung zu Ihrem Kind aufrecht und suchen Sie persönliche, wertschätzende Gespräche ohne Vorwürfe. Jugend und Medien rät, sich nicht auf eine Diskussion über Religion oder Politik einzulassen, wenn Sie sich mit der Materie nicht eingehend befasst haben. Wenn Sie sich hilflos fühlen oder sich die Situation weiter zuspitzt, nehmen Sie Kontakt mit der Jugendarbeit Ihrer Gemeinde oder einer Beratungsstelle auf.




Radikalisierung und Offene Jugendarbeit

Seit dem Erstarken des IS 2014 und den damit verbundenen Terroranschlägen in Europa, ist Terrorismus unter Jugendlichen immer wieder ein Thema. Sie nehmen die Flut von Medienberichten wahr und diskutieren darüber in ihrem Freundeskreis. Die Jugendarbeitenden beobachten, dass die damit verbundenen Gefühle von Verunsicherung und Angst bis hin zu Faszination reichen. Gespräche in verschiedenen Settings der Jugendarbeit sollen den Jugendlichen helfen, mit verstörenden Inhalten umzugehen. Stellt die Jugendarbeit unter Jugendlichen eine überdurchschnittliche Faszination für Gewalt fest, sucht sie mit ihnen möglichst frühzeitig das Gespräch und zeigt auf, dass Gewalt sozial geächtet ist und bei den Opfern für grosses Leid sorgt.

In Gesprächen mit Jugendlichen, die extremen Ideologien zugeneigt sind, sucht die Jugendarbeit nach den Hintergründen, klärt auf und bietet Hilfe bei den ursächlichen Problemen oder beim Wunsch, aus der entsprechenden Szene auszusteigen. Sie lädt zudem immer wieder Experten wie Imame oder Szene-Insider ins Jugendhaus ein, damit sie die anonym gestellten Fragen von Jugendlichen beantworten. Zusätzlich zu diesen Massnahmen investiert sie in eine intensive, wertschätzende und nicht urteilende Beziehungsarbeit. Denn in einer vertrauensvollen Beziehung, die nicht an Erwartungen geknüpft ist, zeigen sich Unzufriedenheit, Frustration und Einsamkeit lange bevor sie zur Ursache von Radikalismus werden können.
 

Hintergrund

Verbreitete Formen

Extremismus und Medien

Psychologische Hintergründe